Der Ruf der Barmherzigkeit
Ende August geht Ingo Bäcker in Pension. Während 13 Jahren war er Spital-, Gefängnis- und Notfallseelsorger in Schaffhausen. forumKirche hat ihn mit seinem Nachfolger Sebastian von Paledzki im Spital zum Gespräch getroffen.
Ingo Bäcker, was hat Sie damals dazu inspiriert, die Tätigkeiten als Spital- und Gefängnisseelsorger zu übernehmen ?
Ich war vorher 23 Jahre in der Pfarreiseelsorge in Winterthur tätig, 17 Jahre davon als Gemeindeleiter in Winterthur-Seen. Es war an der Zeit, ein Leben danach zu beginnen. Und zwar nicht in einer anderen Pfarrei mit derselben Arbeit, aber neuen Gesichtern, sondern eine andere Form von Seelsorge. Als Gemeindeleiter ist man stark mit Administration, Personalführung, Planungen und Sitzungen beschäftigt. Ich wollte mehr mit den Menschen direkt zu tun haben, wieder vermehrt Seelsorge im eigentlichen Sinn machen. Und so ist es ja auch gekommen. Es hat sich so ergeben. Ausserdem hat mich die Kombination von Spital und Gefängnis sehr gereizt.
Ich habe aufgrund meiner vorherigen Erfahrungen gefunden, dass ich da, wo es um existenzielle Fragen geht – manchmal auch in Grenzsituationen –, am besten aufgehoben bin. Ich fühle mich dann am meisten herausgefordert, aber auch gebraucht. Mir sind fünf Beerdigungen lieber als eine Hochzeit. Wenn man vertieft darüber nachdenkt, dann haben die Begegnungen mit Menschen in Grenzsituationen viele Gemeinsamkeiten : Unfreiwilligkeit, beschränkte Lebensräume, Abhängigkeit von anderen, Fixiertsein auf ein bestimmtes Thema, also etwa Krankheit oder ein Delikt.
Wie geht man mit den Schicksalen von Menschen in Grenzsituationen um, damit es einen nach Feierabend nicht belastet ?
Ich habe selten Dinge mit nach Hause genommen, jedenfalls nicht in der Art und Weise, dass sie mich stark persönlich belastet hätten. Ich glaube, dass bestimmte schwierige Situationen mich nicht nur Energie kosten, sondern dass
ich daraus auch Energie erhalte. Zudem achte ich darauf, meine Freizeit zu haben und Ferien als Ferien zu gestalten. Ein stabiles privates Umfeld ist ebenfalls
eine wichtige Sache. Der zentrale Punkt
ist aber schon der : Zugespitzte Situationen kosten nicht nur, sondern geben auch Kraft.
Gibt es Vorkommnisse, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind ?
Es gibt einige, sowohl im Spital wie im Gefängnis. Ich möchte aber nichts Einzelnes nennen, sondern : wenn ich das Gefühl hatte, wir sind uns im Gespräch nähergekommen und haben uns auf eine Art berührt – im übertragenen Sinne. Wenn es jemandem nach dem Gespräch besser geht als vorher.
Haben Sie Pläne für die Zeit nach der Pensionierung ?
Ich freue mich darauf, nichts mehr zu müssen. Wir machen sicher die eine oder andere kleine Reise an Orte, wo wir immer schon gerne gewesen sind. Ich lasse es auf mich zukommen. « Gedanken zum Tag » im Radio Munot mache ich weiter. Und sollte ich angefragt werden, bin ich auch bereit, hin und wieder mal eine Aushilfe oder eine Beerdigung zu übernehmen. Aber ich werde mir auch die Freiheit nehmen, Nein zu sagen.
Sebastian von Paledzki, was hat Sie dazu motiviert, die Stelle von Ingo Bäcker zu übernehmen ? Sie waren zuvor 17 Jahre an der Herz-Jesu-Kirche in Oerlikon, erst als Pastoralassistent, dann als Diakon.
Die Anzeige hat mich sehr angesprochen, diese Kombination aus Spital und Gefängnis. Mehr Seelsorge ist auch für mich ein Thema. In der Pfarrei kommen solche Gespräche vereinzelt vor. Damit geht aber eine Seite von mir in Resonanz, der ich gerne nachgehen möchte. Ich wäre traurig, wenn ich dem nicht stattgegeben hätte. Zudem wohne ich mit meiner Familie in Hallau und hatte einen langen Arbeitsweg. Die Arbeit hat mich erfüllt, aber wir haben drei Kinder. Ich sehe, wie sie älter werden. Ich war häufig am Abend unterwegs. Nun gibt es mehr Familienzeit.
Können Sie noch weitere Unterschiede zur früheren Tätigkeit feststellen ? Sie sind seit 1. August in Schaffhausen tätig.
Mir scheint die Arbeit regelmässiger und planbarer. Auch wenn ich vieles noch nicht gehabt habe, beispielsweise Notfälle. Ich bin viel am Lernen – ein Luxus !
Bisher habe ich mich als Madonnenschnitzer betrachtet, der immer besser wird. Aber am Schluss war es eine Variation des Gleichen. Deshalb wollte ich etwas Neues.
Ich bin Diakon, von meiner Berufung her fühle ich mich zu Leuten hingezogen, die es nicht so gut haben. Es geht um Barmherzigkeit. Da spüre ich, da ruft mich Gott in eine Ecke, in der ich vorher noch nicht war, die aber auch wichtig ist. Ich merke, wie es mich fordert. Ich habe keine Schublade mehr in meinem Archiv, die ich ziehen kann. Es ist jedes Mal neu, eine Herausforderung, aber absolut schön.
Interview : Béatrice Eigenmann, forumKirche, 25.08.2025